Von der Pfadfinderbewegung zu den globalen Jugendkulturen

Prof. Dr. Wilfried Ferchhoff, Universität Bielefeld

Tagungsband 2014, S. 119 - 139

Zusammenfassung:

Wenn wir den Bezugspunkt Deutschland wählen, haben wir daran zu erinnern, dass jugend­kulturelle Strömungen vornehmlich in den bürgerlichen Traditionen des deutschsprachigen Wandervogels, die an der Wende zum 20. Jahrhundert in der Regel zwar noch nicht milieu­transzendierend und auch noch nicht universalisierend  (eben gerade nicht neudeutsch: globa­lisiert), allerdings schon als bunte, facettenreiche, schillernde und eigensinnige  Lebensformen zumeist in regionalen bzw. lokalen Zusammenhängen wahrgenommen wurden. Und auch die in den nuller Jahren des 20. Jahrhunderts in Großbritannien entstehende Pfadfinderjugend war vornehmlich in der deutschen Genese zunächst auch bürgerlich milieuaffin. Gleichwohl wies sie im deutlichen Gegensatz zum Wandervogel und später zur bündischen Jugend von vornhe­rein zumindest in weiten Zügen internationale, globale Dimensionen auf. Im Gegensatz zum Wandervogel und auch wiederum im Gegensatz zur bündischen Jugend gab es bei den Pfad­findern nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer besonderen, zumindest vormilitärisch ange­hauchten, später abgelegten Entstehungsgeschichte (was etwa Vorbilder, Leitbilder, gesell­schaftliche Norm- und Wertvorstellungen, intentionale Erziehungsanliegen und -formen, Symboliken, pädagogische Hierarchien, pädagogischen Bezug, Befehlsstrukturen (Führer-Geführte etc.),Subordinationsphänomene, Altersgruppeneinteilungen, Lebensstilformationen  u. v. a. mehr betraf) einen formalen, viel stärkeren und wirksameren organisatorischen Bezug. Das rasche Aufblühen eines pfadfinderischen Lebens in Deutschland wie in Großbritannien lag eben nicht nur an wehrpolitischen Überlegungen und Funktionalisierungen zum Zwecke der Wehrertüchtigung, sondern hatte auch jugendspezifische Gründe, die in der Logik der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse der jugendlichen Entwicklung lagen. Hinzu kam ein „ethisches Prinzipiengerüst“ der Pfadfinderei, das sowohl an das britische Gentleman-Ideal als auch an übernationale mittelalterliche Rittertugenden wie  Hilfs- und Opferbereitschaft, alltägliche Nächstenliebe, Ehre, Treue, Höflichkeit, Mäßigung, calvinistische bzw. puritanisch asketische Lebensdevise, Achtung aller Lebewesen und an romantische Beschwörungen aus Geschichte und Sagenwelt anschloss. In Deutschland waren auch im Pfadfinderwesen die tendenziell irrationalen, nicht aufklärerischen hochromantischen Beschwörungen, der mysti­scher Sendungsglaube,  die Zivilisationsmüdigkeit, die fin-de-siẻcle-Stimmung,  die lebensre­formerische Bewegung: Zurück-zur-Natur sicherlich stärker als in Großbritannien. Allerdings kam es erst im ersten Weltkrieg und später in der Weimarer Republik in Deutschland zu in­haltlichen und geistigen Begegnungen und Auseinandersetzungen zwischen Teilen der Pfad­finderbewegung und dem Wandervogel bzw. der sogenannten autonomen Jugendbewegung, also, wie es damals hieß, zwischen „pfadfinderischem und Wandervogel-Geist“ (Seidelmann).

Die jugendkulturellen Strömungen müssen in einem Zeitraum von mehr als hundert Jahren immer stärker vor dem Hintergrund der Schnelligkeit, Dichte und Wirksamkeit globaler welt­gesellschaftlicher ökonomischer, sozialer und kultureller Prozesse (insbesondere hier qua Technik, Mobilität, Mode, Musik Tanz, Sprache, Sport, Habitus etc.) im Kontext einer sich schon spätestens nach dem 1. Weltkrieg andeutenden und in den folgenden Jahrzehnten im­mer weiter Fahrt aufnehmenden weltweiten Durchsetzung und wegweisenden Vorherrschaft der amerikanischen pop culture, die in der Eigenlogik von sich aus kaum noch Bezüge zu den  bündischen Elementen und auch nicht zu den pfadfinderischen Elementen der Jugendkulturen aufwies,  (eher schon umgekehrt, dass etwa das Pfadfinderwesen sich mit den popkulturellen Strömungen auseinandersetzen musste) betrachtet werden. Diese komplexen globalen, sich weltweit durchsetzenden, facettenreichen alltags- und jugendkulturellen Strömungen werde ich hier zumindest in groben Pinselstrichen bis in die zehner Jahre des 21. Jahrhunderts re­konstruieren.