Pfadfinden — Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht Eckart Conze, Matthias D. Witte
Springer Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden, 2012 ISBN 978-3-531-18138-7 |
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Vorwort
Vor mehr als 100 Jahren begann die Geschichte einer Bewegung, die das Pfadfinden zum Schlüssel einer aktiven Kinder- und Jugendarbeit machte und heute weltweit mehr als 38 Millionen Heranwachsende zu ihren Mitgliedern zählt. Seit Robert Baden-Powell im Jahr 1907 das erste experimentelle Pfadfinderlager durchführte, fanden seine Ideen ihren Weg in mehr als 200 Länder.
Die Pfadfinderbewegung ist heute eine internationale, weltanschaulich und politisch unabhängige Erziehungsbewegung für Kinder und Jugendliche, die für Menschen aller Nationalitäten und Glaubensrichtungen offen steht. Sie hat das Ziel, die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen und ihr gesellschaftspolitisches Engagement zu fördern und im Wege des "learning by doing" eine sinn- und wertvolle Alternative zur kommerziellen Freizeitgestaltung anzubieten.
Von archivarischem Materialstudien und der Sammlung detailgenauer Erlebnisberichte abgesehen steht jedoch eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit dem Pfadfindertum, seinen pädagogischen Grundkonzepten und den geschichtlichen Wandlungsprozessen bislang weitgehend aus.
Angeregt wurde die Fachtagung durch ein Positionspapier des Gründers und heutigen Ehrenvorsitzenden des Pfadfinder Hilfsfond e.V. (PHF), Hansdieter Wittke, der dem Vorstand des PHF im Herbst 2008 seine Vorstellungen im Zusammenhang mit dem hundertjährigen Bestehen der deutschen Pfadfinder vorlegte. Darin stellte er unter anderem fest: Der PHF könne und solle – ich zitiere: „ […] etwas in Bewegung setzen, was die Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Deutschland so bisher noch nicht geleistet haben: Die Grundlagen und Entwicklungen der deutschen Pfadfinder wissenschaftlich aufzuarbeiten.“ […] Weiterhin begründet er aus jahrzehntelangem direktem Einblick in die Pfadfinderszene, […] „dass die Pfadfinder ihre Jugendarbeit unterschiedlich gut machen, überzeugt von der Richtigkeit ihres Tuns. Oftmals mit herausragendem Engagement, manchmal auch, weil es immer so gemacht wurde. Mit den Inhalten ihres Tuns, den erzieherischen Vorgängen, deren umfassender Bedeutung etc. befassen sie sich eher weniger, arbeiten mehr intuitiv und mehr oder weniger „grundlagenorientiert“ organisatorisch, bündisch oder pfadfinderisch. Kaum aber wissenschaftlich, hinterfragend, bewertend und öffentlich.“ […] Ferner sei zu fragen: „Sind die Pfadfinder nicht interessiert an ihrem durchaus bemerkenswerten Erziehungssystem? Können oder wollen sie sich mit den aktuellen oder historischen Fragen und Problemen nicht auseinandersetzen? Scheuen sie gar Offenheit und Klarheit oder die Öffentlichkeit? […] Dies aufzuhellen, intellektuell zu bearbeiten und zu dokumentieren, hat die deutsche „Pfadfinderei“ offensichtlich versäumt, auf jeden Fall nicht angemessen und gezielt begonnen oder zusammengeführt. […] Unschwer ist zu erkennen, dass hier ein äußerst spannendes Kapitel deutscher unerschlossener Jugendkultur existiert und der Erweckung bedarf. […] Die zielgerichtete Herangehensweise der Träger deutscher pfadfinderischer Jugendarbeit an dieses Thema ist eine Herausforderung, deren Annahme von ihrer Bedeutung her von herausragendem eigenen Interesse ist“ – Ende der Zitate.
Diesem Gedankenentwurf hat sich der PHF letztlich angeschlossen. Als bundesweit tätiger Förderverein der Pfadfinderarbeit, hat er sich deshalb im Jubiläumsjahr der deutschen Pfadfinderbewegung zur Aufgabe gemacht, mit einer ersten Fachtagung als Impulsveranstaltung diese wissenschaftliche Auseinandersetzung in Gang zu setzen. Die Universität Marburg, Prof. Dr. Eckart Conze und Prof. Dr. Matthias D. Witte, als wissenschaftliche Leiter, sowie PHF, der die Organisation und Finanzierung übernahm, konnten - auch durch persönliche Verbindungen und Vorbereitungen von Hansdieter Wittke - für diese Idee gewonnen werden.
Es ist sicher sinnvoll und gesellschaftspolitisch lohnend, sich mit der Bedeutung der pfadfinderischen Arbeit, ihren besonderen Entwicklungen und deren Auswirkungen wissenschaftlich deutlich intensiver zu befassen, als dies nach unserer Wahrnehmung in Deutschland bisher geschehen ist. Eine systematische Aufarbeitung dieser Form von Jugendarbeit ist überfällig. Sie zu erforschen hat für die Erkenntnis der Vergangenheit, aber auch für die Position heute aktiver Pfadfinderinnen und Pfadfinder gleichermaßen besondere Bedeutung im Hinblick auf Bestandsaufnahme, bewusste Weiterentwicklung und eine Verstärkung ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Akzeptanz. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Jugendarbeit zu erfassen, könnte den Boden für ihre Akzeptanz verdichten.
Die Ergebnisse der ersten Fachtagung, die vom 12. bis 14. März 2010 in Wolfshausen bei Marburg stattfand, halten Sie mit diesem Buch in der Hand.
Die Fachtagung „100 Jahre Pfadfinderpädagogik“ mit ihrer interdisziplinären Ausrichtung hat dazu beigetragen, das historische und erziehungswissenschaftliche Wissen über diese weltumspannende Bewegung zu bündeln, Ergebnisse aus der Forschung zu systematisieren und zukünftige Forschungsfelder aufzuzeigen. Sie hat Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Pfadfinderpädagogik betrachtet und dabei sowohl deren historische Entwicklung vor dem Hintergrund der Dynamik gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen als auch deren Gestalt zu Beginn des 21. Jahrhunderts beleuchtet. Sie hat exemplarisch herausgearbeitet, wie sich die Pfadfinderpädagogik über ein Jahrhundert entwickelte und veränderte, aus welchen unterschiedlichen Ideenwelten und Vorstellungen sich der erzieherische Anspruch und das erzieherische Handeln der Pfadfinderbewegung seit ihrer Entstehung vor 100 Jahren speiste und wie schließlich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche politische, gesellschaftliche und sozialkulturelle Rahmenbedingungen die pädagogischen Vorstellungen und das pädagogische Handeln beeinflussten.
Folgende Fragen bestimmten das Programm und wurden im Rahmen der Veranstaltung diskutiert:
- Wie prägt sich eine Pädagogik der Pfadfinder strukturell aus?
- Welche Etappen der Pfadfinderpädagogik sind beobachtbar und woran waren sie konzeptuell orientiert?
- Welchen Einfluss nehmen die jeweiligen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen auf die Pfadfinderpädagogik?
- Ist die Pfadfinderpädagogik eine zeitgemäße Bildungsform?
Die Fachtagung richtete sich an Personen, die sich im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und Tätigkeit der Pfadfinderpädagogik sowie dem erlebnis- und handlungsorientierten Erfahrungslernen in der Natur widmen. Sie zielte gleichermaßen ab auf aktive Pfadfinderinnen und Pfadfinder – vorzugsweise in Führungsfunktion von Bünden –, die zeitgemäße Pfadfindererziehung praktizieren und weiterentwickeln, allzu häufig jedoch ohne hinreichende Kenntnis der sie prägenden historischen und pädagogischen Grundlagen.
Als Initiator der ersten Fachtagung sind wir den Professoren und Institutsleitern der Phillips-Universität Marburg Dr. Eckart Conze und Dr. Matthias D. Witte außerordentlich dankbar, dass sie unsere Anregungen aufgenommen und in der Programmgestaltung insbesondere den interdisziplinären Dialog angestoßen haben. So ergab sich eine ausgesprochen fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der wissenschaftlichen Leitung einerseits, und der organisatorischen Leitung durch den PHF andererseits. Sehr dankbar sind wir den acht Referenten, die durch ihre fachlich fundierten Vorträge aus ihrem jeweiligen Forschungsgebiet die Aufmerksamkeit der Teilnehmer gewonnen und immer wieder zu lebhaften Diskussionen angeregt haben.
Dank schließlich auch den 80 Teilnehmern, die durch interessiertes Zuhören und lebhafte Diskussionen zum Gelingen der Tagung beigetragen haben. Auch sie haben uns in unserem Vorhaben ermutigt, im März 2012 eine Folgetagung mit ähnlicher Zielsetzung und Struktur am gleichen Ort durchzuführen.
Pfadfinder Hilfsfond e.V., im Februar 2011
Martin Lochter, Vorsitzender