Alexander Lion und sein Überleben im Nationalsozialismus

Alexander Lion und sein Überleben im Nationalsozialismus

Dr. Stephan Schrölkamp, Berlin / Prof. Dr. Wilfried Breyvogel, Essen

Veröffentlichungstitel: Alexander Lion. Gründer der Pfadfinderbewegung und erster Scout Deutschlands

Tagungsband 2016, Seiten 27-100

Thesen I

 

  1. Alexander Lion stammte aus einer jüdisch assimilierten Familie des höheren Bürgertums Berlins. Er hatte neun Geschwister. Neben der erstgeborenen und früh verstorbenen Schwester ist er als Sohn das an achter Stelle geborene Kind einer großen Familie. Neben sechs Schwestern und dem an dritter Stelle geborenen Bruder Hugo folgte ihm als jüngster Bruder Richard 1873. Vier seiner Geschwister sind konvertiert. Er selbst konvertiert 1900 im Rahmen seiner Heirat, nachdem er bereits 1894 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten war. Zum Bekanntenkreis der Familie gehörte die bekannte Berliner Weinhandlung „Lutter & Wegner“, der Leibarzt des Kaisers Friedrich III, August von Wegner sowie der Historiker Prof. Fritz Stern, gegenwärtig 90-jährig in New York lebend.
  2. Nach dem Austritt aus der jüdischen Gemeinde und der Konversion zum Katholizismus trat er 1896 als Sanitäts-Offizier im aktiven Militärdienst in die bayerische Armee ein. Mit der kaiserlichen Schutztruppe war er von 1904-1906 in Deutsch-Südwest-Afrika stationiert. Durch Kontaktaufnahme 1908 mit Baden Powell wurde er der „Gründervater“ der deutschen Pfadfinderbewegung. Im Bundesvorstand des Deutschen Pfadfinderbundes war er von 1911-1921 Ehrenfeldmeister. Im Jahr 1919 beteiligte er sich an den Kämpfen der Freikorps in München und Danzig. Als Generaloberarzt wurde er Ende 1920 aus der Reichswehr entlassen und ließ sich als praktischer Arzt in dem Kurort Oberhof, Thüringen, nieder.
  3. Seine katholische Frau Mathilde Hibl war neun Jahre jünger und wurde in Niederbayern geboren. Ihr Vater stammte aus einer katholischen, bayerischen Offiziersfamilie, ihre Mutter aus Würzburg.
  4. Sie war musisch sehr veranlagt, was sie an ihre beiden Kinder, Maximilian und Cäcilia (Lili), weitergab. Beide hatten eine Ausbildung als Sänger und waren vor 1933 an Opern- und Konzerthäusern beschäftigt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verloren beide ihre Beschäftigung. Maximilian wich mit seiner Familie nach Rom aus und betrieb einen Kiosk für Fotografie vor der Statione Termini. Lili war mit dem Chirurgen Dr. Carl Neller verheiratet und lebte im Kölner Raum. Aufgrund seiner Ehe mit einer „Halbjüdin“ konnte er 1934 keine Kassenzulassung zur beabsichtigten, selbständigen Niederlassung erhalten und das Ehepaar beschloss, sich zum Schein scheiden zu lassen (Zwangsscheidung). Das erste Kind, Klaus, wurde kurz vor der Scheidung 1934 geboren. Es folgten „unehelich“ 1936 Sybille und 1939 Annemarie.
  5. Der Antisemitismus war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Seit 1870/71 existierten starke antisemitische Tendenzen in Deutschland. Mit der großen Depression ab 1880 bildeten sich vermehrt antijüdische und antisemitische Agitationsverbände, die einen biologischen Rassismus ausprägten, welcher im Kampf gegen den „ewigen“ Juden in allen seinen Erscheinungs- und Betätigungsformen gipfelte.
  6. Wie reagierte Alexander Lion auf diesen Antisemitismus, wie gestaltete sich sein Umgang mit dem „Jude-Sein“? Neben dem Austritt 1894 aus der jüdischen Gemeinde ist er im Dienstlichen Personalbogen des Militärs als konfessionslos und ab 1900 als katholisch geführt. In einer Anmerkung über sein dienstliches Verhalten wurde er von seinem Divisions-Kommandeur als getaufter Jude bezeichnet. In den Kriegsstammrollen bis 1918 wurde bei seiner Religion zweimal israelitisch bzw. sechsmal katholisch angegeben.
  7. Die interkonfessionelle Haltung im Vorläuferverein „Jugendsport in Feld und Wald“ und im Deutschen Pfadfinderbund ist durchgängig von 1909 bis 1918 nachweisbar. Bezeichnend dazu hieß es in den Leitsätzen des Deutschen Pfadfinderbundes von 1913, Stand und Glaubensbekenntnis sind nicht maßgebend.
  8. Trotzdem kam es zu Angriffen gegen jüdische Vereinsmitglieder der Pfadfinderbewegung, so gegen den ersten Vorsitzenden und Fabrikbesitzer, Konsul Georg Baschwitz, den Schriftführer, Dr. med. Ernst Singer, den Beiratsmitglied und Juristen, Dr. Bruno Herzberg sowie den Verlagsbuchhändler, Konsul Ernst Vohsen. Ehrenfeldmeister Dr. Alexander Lion erfuhr in dieser Zeit keine Angriffe. Dennoch kam es 1912 zu Vorwürfen gegen die Bearbeiter des Pfadfinderbuches wegen Mangels an Vaterlandsliebe, Königstreue und religiösem Empfinden durch den General von Jacobi. Nach einer erfolgreichen Verteidigung der Pfadfinderidee durch Alexander Lion vor einem Offizier-Ehrengericht im königlichen Schloss von Berlin bestätigte 1913 Kaiser Wilhelm II diesen Ausgleich und legitimierte damit indirekt Alexander Lion als Nichtjuden.
  9. Alexander Lions „Outing“ erfolgte 1920 auf der Naumburger Feldmeistertagung des Deutschen Pfadfinderbundes. Der Vertreter der jungdeutschen Pfadfinderschaft Pastor Martin Voelkel stellte die Rassenfrage in den Raum, worauf Alexander Lion auf seine Verdienste verwies und damit indirekt eine Verteidigungsrede für das Judentum hielt. Danach wurde er auf das heftigste angegriffen und zog er sich aus der Pfadfinderbewegung weitgehend zurück. Der Abschluss der Judenfrage im Deutschen Pfadfinderbund erfolgte auf der Pfingstführerwoche in Dresden 1923 mit der Aussage: „Wir wollen danach streben, uns von Juden zu befreien.“
  10. Die biografischen Daten zeigen die Zuspitzung seiner Situation im Nationalsozialismus. Wir konzentrieren uns hier auf seine Verhaftung wegen Landesverrats und seine anschließende Verurteilung wegen Fortsetzung der bündischen Jugend in den Jahren 1938/39.

Zum Abschluss erfolgt der Versuch einer Auflistung der wahrscheinlichsten Gründe, warum Alexander Lion das III. Reich überlebt hat. Über die Treue seiner Ehefrau Mathilde, die Erklärung zum „privilegierten Nichtarier“, seinem Einsatz als Freikorpsführer in München bis zu diversen Leumundszeugen eines Generaloberst Eduard Dietl und General Kress von Kressenstein.

 

Thesen II

 

  1. Die Nationalsozialisten schreckten in der Regel davor zurück, Juden, die mit Deutschen verheiratet waren, systematisch zu verfolgen. Wenn der deutsche Ehepartner männlich war, hatte Hermann Göring bei Hitler einen Sonderstatus als privilegierte Mischehe durchgesetzt. Alexander Lion war Jude und lebt in Ehe mit einer Katholikin seit 1900. Er selbst war bereits 1894 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten, zwischenzeitlich konfessionslos und konvertierte zum Katholizismus im Jahr 1900.
  2. Nach dem Verlust der Staatsbürgerrechte 1935 musste er seine Praxis in Oberhof verkaufen, lebte ca. zwei Jahre mit seiner Frau auf Reisen in Italien und Rom und versuchte sich 1938 in dem Ort Brannenburg im Inntal zurückzuziehen. Als er im Ort gesichtet wurde, wurde seine Frau von drei Gastwirtschaften abgewiesen, zuletzt konnte sie in der Pension einer ehemaligen Krankenschwester bleiben. Er zog sich in die Klause einer Wallfahrtskirche in Schwarzlack in den Bergen zurück.
  3. Am 2. November 1938 wurde er dort in Schwarzlack von der Gestapo verhaftet. Die Tatsache, dass gegen ihn in München wegen Landesverrats ermittelt wurde, war eine zentrale Bedrohung seiner Existenz in jeder Beziehung.
  4. Nach den ersten Ermittlungen in München wurde er am 24. Oktober 1938 nach Berlin in die Prinz-Albrecht-Straße Nr. 8, die Gestapo-Zentrale und den Sitz des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA) verlegt.
  5. Zu seiner Überraschung beschränkten sich in Berlin die Ermittlungen nur noch auf die Fortsetzung der Kontakte zu Pfadfindern in Österreich und im Reich. Das waren für ihn Lappalien, Nichtigkeiten, die im Ergebnis durch eine geschickte Verteidigung zu einer zehnmonatigen Gefängnisstrafe führten, wobei die sechs Monate Untersuchungshaft angerechnet und der Rest zur Bewährung ausgesetzt wurden. Nach nochmaliger Rücksprache mit der Zentrale in Berlin konnte er eine Woche nach dem Urteil auf freien Fuß kommen.
  6. Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens belegen die Briefe in den ersten Wochen seiner Haft eine tiefe Erschütterung, die ein Suizid seinerseits nicht ausschloss, um seiner Frau eine Teilrente zu ermöglichen. Sie hatte ihn ihrerseits während seiner Aktivitäten stets gewarnt und rechnete mit „mathematischer Sicherheit“ damit, dass ihn die Strafverfolgung erfassen würde. Ihre Warnungen hatte er in den Wind geschlagen. Sie war teilweise sehr verbittert, hielt aber zu ihm und versprach ihm die Treue.
  7. Als er allerdings 1947 sich wieder mit jetzt 77 Jahren voll in die Aktivitäten stürzt, scheint sie doch noch mal die rote Karte gezogen zu haben, wie ein Gedicht von ihm ausweist. Als sie am 1. Februar 1957 starb, verfasste er eine Dankesrede, die davon nichts zeigt.

 

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