Pfadfinder/innen/verband – Ein Ort der Demokratiebildung?
Tagungsband 2012, S. 53-67
Zusammenfassung:
Wenn davon ausgegangen wird, dass Demokratie gelernt werden kann und gelernt werden muss, dann stellt sich die erziehungswissenschaftliche Frage: "Wo wird Mensch Demokrat/in?". Dabei lautet die These, dass es aus theoretischer Sicht die – erziehungswissenschaftlich vernachlässigte – Institution Verein ist, die durch freiwillige Mitgliedschaft und Ehrenamt diesem Bildungsanspruch gerecht zu werden vermag. Auch die Pfadfinderbewegung ist in Vereinsform organisiert und hat aus diesem Grund ein hohes Potenzial zur demokratischen Bildung beizutragen. Vereine können also theoretisch als Institutionen der lebensweltlichen Demokratiebildung angesehen werden, weil sie sich durch eine gemeinsame Zielsetzung, freiwillige Mitgliedschaft, ehrenamtliches Engagement, Lokalität und Öffentlichkeit auszeichnen.
Im Vortrag wird dafür zunächst ein doppeltes Verständnis von Demokratie herausgearbeitet. Demokratie ist damit im Anschluss an John Dewey einerseits zu verstehen als eine Lebensform, die der Verständigungsorientierung den Vorrang gibt und andererseits als eine Regierungsform, im Anschluss zum Beispiel an Schumpeter, in der es um die Aushandlung von Machtinteressen geht.
Folgt die Pfadfinder/innen/bewegung einer dieser Demokratieformen und wenn ja, welcher? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt erschwerend hinzu, dass der Zusammenhang zwischen Jugendarbeit in Vereinen und Demokratiebildung empirisch überlagert und relativiert wird durch Tendenzen der Entdemokratisierung der Vereine in den Formen von Zentralisierung, Familiarisierung und Verbetrieblichung. Im Vortrag werden diese Entdemokratisierungstendenzen erläutert.
Im Anschluss werden Ergebnisse einer empirischen Untersuchung mit ehemaligen und heutigen Ehrenamtlichen von Jugendverbänden vorgestellt, dessen zentrale Fragestellung lautete, „ob und wieweit Vereine ihr demokratisches Potenzial nutzen und ob Jugendvereine ein demokratisches Selbstverständnis haben.“
Dabei ist ein Ergebnis, dass es nach 1945 vor allem um die Wiederbelebung der Vereinskultur in der Gemeinschaft ging, wie sie vor der Zeit des Nationalsozialismus bestanden hatte. Die Verbindung dieser Vereinskultur mit einer Demokratiebildung war bei den Pfadfindern jedoch nicht zu erkennen. Formale Verfahren, wie etwa Wahlen für Ehrenämter, wurden eher als störend denn als förderlich für die Gemeinschaft angesehen. Die historische Zäsur der 1970er Jahre löste in allen Verbänden erhebliche Veränderungen in der Vereinskultur aus und führte zu einem grundlegenden Einstellungswandel gegenüber den Vereinsprinzipien der Mitgliedschaft, des Ehrenamtes und der Öffentlichkeit, so dass es berechtigt erscheint, für diese Zeit von einer Demokratisierung der Verbände zu sprechen.
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Dienstleistungsorientierung der Jugendarbeit stellte sich dann die Frage, ob es für die Verbände heute noch eine Notwendigkeit, Möglichkeit oder Perspektive für ein demokratisches Selbstverständnis in den Verbänden gibt. Die Ergebnisse der Gespräche mit den heutigen Ehrenamtlichen zeigen, dass das doppelte Demokratieverständnis von Demokratie als Lebens- und Regierungsform in den Jugendverbänden nicht nachvollzogen wird. Entweder die Verbände unterstützen zwar die Demokratie als Regierungsform, praktizieren aber nicht die Lebensform in ihrem Jugendverband selbst, sondern sprechen hier – wie die Pfadfinder – lediglich von Gemeinschaft. Das demokratische Potenzial wird also von den Vereinen und Verbänden nicht vollständig ausgeschöpft und begrifflich zu wenig reflektiert. Die Bildung der Institution Verein steht für die Vereine selbst, aber auch für die Erziehungswissenschaft und die Politik erst am Anfang. Die Vereine – und damit auch die Pfadfinderinnen und Pfadfinder – sollten die Chance ergreifen, in einen Diskurs über die Potenziale ihrer eigenen Strukturen zu treten, um sich institutionenbewusst in der Demokratiediskussion positionieren zu können.