Elite und Benachteiligte – Pfadfinder und soziale Disparitäten
Prof. Dr. Karl Düsseldorff, Duisburg
Tagungsband 2012, S. 71-90
Zusammenfassung:
Umstritten, konkret aber wenig beforscht ist die Frage, aus welchen sozialen Klassen oder Milieus sich eine Vielzahl von Gruppierungen der Jugendkultur und oder der Jugendbewegung zusammengesetzt haben, die nicht, wie die Gewerkschafts- oder Arbeiterjugend bereits in ihrer Bezeichnung schon eindeutig auf eine Herkunft verweisen. Wir wissen kaum, aus welchen Milieus einzelne andere Organisationen der Bewegungen hervorgingen (Wandervögel, Bündische Jugend, Pfadfinder) und auch über die heutige Rekrutierung können wir in der Regel dazu oft nur Vermutungen äußern. Dabei ist diese Frage angesichts einer zunehmend heterogener werdenden Gesellschaft und den damit verbundenen Segregations- und Integrationsproblemen eminent spannend, eröffnen doch organisierte soziale Gruppierungen und Verbände mit einem sozial engagierten und verbindenden programmatischen Anspruch Chancen, die gesellschaftliche Heterogenität abzubauen bzw. wenigstens konsensfähige ideelle Orientierungen anzubieten.
Schaut man in sozialhistorische Grundlagenwerke, die sich mit dem Phänomen der Jugendbewegung und damit der Pfadfinderbewegung als Teil davon beschäftigen, scheint es, als sein Pfadfinder eher gesellschaftlich elitären Kreisen zuzuordnen – eine Nähe zur Arbeiterschaft und den Arbeiterjugendlichen gilt nicht als plausibel. Dafür sprechen auch aktuellere Veröffentlichungen, wie zum Beispiel ein Artikel des HANDELSBLATT aus dem Jahr 2006: „Pfadfinder als Wirtschaftsbosse – Die Manager vom Lagerfeuer“. Hier wird das Who is Who der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Elite national wie international aufgelistet und als überzeugte Mitglieder der Weltpfadfinderbewegung geoutet. U.a. die US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, Gerald Ford und Bill Clinton; die französischen und englischen Staats- bzw. Regierungschefs Jacques Chirac und John Major; auch der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler war Pfadfinder, usf. Zahlreiche Wirtschaftsbosse (u.a. Bill Gates), sind auf ihr Scouting auch heute noch stolz, ebenso Star-Entertainer wie Thomas Gottschalk oder absolute Spitzensportler wie Mark Spitz, um nur einige wenige zu nennen. „Heute ist der bekannteste Kopf der Bewegung der schwedische König Karl Gustaf“ (HANDELSBLATT). Genährt wird der Verdacht, Pfadfinder sein einer Elite zugehörig auch durch ein Zitat von Baden Powell aus seiner Abschlussrede anlässlich des ersten Jamboree in London, die er mit dem Aufruf beginnt: „Pfadfinderbrüder! Ihr müsst Elite sein“.
Ist das wirklich so? Ist das Pfadfinderwesen nicht gerade das Gegenteil, weil es Demut, harmonische Unterordnung in einer Gemeinschaft und eine immaterielle und eine nicht auf Leadershipansprüche bezogene Lebenseinstellung propagiert? In seinem Abschiedsbrief an die Pfadfinder kurz vor seinem Tode äußert Baden Powell kurz vor seinem Tode: „Das Glück ist nicht die Folge von Reichtum oder Erfolg im Beruf …Das eigentliche Glück findet ihr darin, dass ihr andere glücklich macht. Versucht, die Welt ein wenig besser zu verlassen als ihr sie vorgefunden habt“.
Inhalt und Ziel des Beitrags ist die Sammlung plausibler Indikatoren für eine Einschätzung, ob die Pfadfinderbewegung in ihrer Zusammensetzung eher von Mitgliedern der gesellschaftlichen Elite dominiert wird oder eher eine ausgewogene soziale Rekrutierung repräsentiert. Und: Was das eine oder das andere bedeutet? Und nicht zuletzt: Im Beitrag wird ein Programm für eine Untersuchung vorgestellt, die Auskunft über die soziale Zusammensetzung der Pfadfinderschaften in Deutschland ermöglicht sowie argumentativ dargestellt, dass für die Pfadfinderbewegung eine Öffnung und Rekrutierung sämtlicher sozialer Herkunftsmilieus nicht nur ihren Ansprüchen, sondern auch den selbst gestellten Zielen entspricht.