Modelle und Formen der Prävention. Best-Practice-Beispiele
Veröffentlichungstitel: Beziehungsgestaltung und Professionalität in der Pfadfinderbewegung
Tagungsband 2016, Seiten 211-236
Abstract:
Die in den 2000er Jahren ins Rollen gekommene Aufarbeitung der Missbrauchshistorie von Kirche, Jugendbewegung und Reformpädagogik hat den Weg geebnet für eine veränderte Praxis. Vielerorts sind Verlautbarungen der Positionierung und Selbstverpflichtung entstanden, die eine organisationale Auseinandersetzung mit dem Thema dokumentieren. Unklar war und ist jedoch, ob dadurch tatsächlich eine veränderte Praxis entstanden ist. Falls dem so ist, muss weiter gefragt werden, wie sie aussieht. Pädagogik wird von, für und mit Menschen betrieben. Ihr Fundament ist die folgenreiche Beziehung dieser Menschen in einem unabweisbaren Herrschaftsverhältnis.
Manchmal scheint der Pädagoge mehr oder weniger bewusst seine eigene Zielgruppe zu sein. Das trifft insbesondere auf die herausragenden Reformpädagogen und Jugendführer zu. Ein Blick auf ihre Biografien, ihre Denk- und Handlungsmuster – gut rekonstruierbar aus eigenen Publikationen und Zeitzeugenberichten – zeigt in aller Regel narzisstoide Charaktere an der Grenze zum Pathologischen und zuweilen auch jenseits davon. Deren sexuelle Präferenzen stehen dabei nicht in der Kritik, sie sind nicht wählbar (ggf. allerdings für eine Arbeit mit Heranwachsenden nicht kompatibel und daher eine Ausschlusskriterium). Hochproblematisch sind vielmehr jene Persönlichkeitsstrukturen, die eine von Selbstkritik weitgehend ungehinderte Ausnutzung von Schutzbefohlenen zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse ermöglichen und befördern. Es ist daher sinnvoll, Pädagogen (der Begriff schließt natürlich auch alle Ehrenamtlichen ein) in dieser Hinsicht zu überprüfen, anstatt nur zwanghaft nach sexuellen Auffälligkeiten zu fahnden.
Des Weiteren ist Pädagogik vor allem eine Tätigkeit. Das heißt, die Manifestation eines pädagogischen Konzepts im Sinne von gezielten Handlungen von Pädagogen innerhalb der pädagogischen Beziehung ist beobachtbar und kann reguliert werden. Organisationale Selbstverpflichtungen – wie sie seit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle an der Oden- waldschule und in kirchlichen Bildungsanstalten zuhauf publiziert wurden – sind bedeutungslos, wenn sie in der pädagogischen Beziehung nicht umgesetzt werden. Das kann an mangelndem Problembewusstsein liegen oder aber an mangelnder Kompetenz. In beiden Fällen sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die pädagogische Praxis zu verändern. Darin eingeschlossen sind Bemühungen, eine offene Kommunikationskultur in allen pädagogischen Kontexten zu etablieren.
Wir benötigen also über symptomatische Diagnoseinstrumente hinaus (die es inzwischen in Form von Checklisten und Richtlinien zur Missbrauchsprävention durchaus gibt) systemische und gleichzeitig praxisfähige Indikatoren für eine angemessene pädagogische Beziehung. Dies schließt – ich wiederhole mich – den genauen Blick auf die Persönlichkeit des Pädagogen ein und die Etablierung eines praxisfähigen Verhaltenskodex', der vor Missbrauch schützt, die pädagogische Arbeit aber möglichst nicht beeinträchtigt. Hierher gehören bspw. Fragen nach allgemeinen Berührungen, Privatsphäre, Körperpflege, Gesundheitsvorsorge, Gruppengrößen u. a. Das Ziel aller Bemühungen und Betrachtungen ist die Gestaltung einer wirksamen pädagogischen Beziehung in Pfadfindergruppen, die Nähe ermöglicht, Missbrauch ausschließt und Pädagogen nicht unter Generalverdacht geraten lässt.
Der Workshop soll als Forum des Austausches darüber dienen, wie weit die verbandlichen Reaktionen (wenn es welche gibt) zur Missbrauchsproblematik sich auf die pfadfinderischen Überzeugungen und Handlungsweisen im Gruppenalltag auswirken. Die Teilnehmer sind dazu eingeladen, sich mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung aus zurückliegender, aktueller oder geplanter Praxis des Pfadfindens einzubringen. Die folgenden Anhaltspunkte können dabei als Strukturierungshilfen für den Dialog dienen:
Motiv |
Aus welchem Grund wurden jeweils welche Maßnahmen erwogen oder durchgeführt? Wurde z. B. eine Selbstverpflichtungserklärung eher zur Wahrung der verbandlichen Reputation oder zur tatsächlichen Veränderung von Kommunikations-, Gemeinschafts- und Tätigkeitsformen aufgelegt? Natürlich sind Mischformen möglich. |
Wirksamkeit |
Haben in den Pfadfinderverbänden aufgrund von Reaktionen auf die Missbrauchsskandale tatsächlich Veränderungen der pädagogischen Praxis in irgendeiner Hinsicht stattgefunden? Wenn ja, in welcher? Werden diese Veränderungen als wirksam hinsichtlich ihres Zweckes angesehen? Wovon hängt die Wirksamkeit ab? Wenn nicht, sollten sie beibehalten werden oder gefährden sie eher das pfadfinderische Selbstverständnis und die konkrete Arbeit der Bünde? Sind die Arbeitshilfen ausreichend und praxistauglich? |
Dauerhaftigkeit |
Werden veränderte Praxen nach wie vor angewandt bzw. wie lange nach ihrer Einführung wurden sie beibehalten? Gibt es ggf. Vermutungen oder klare Ursachen für eine Erosion veränderter Praxen? Wurden Gegenmaßnahmen ergriffen (welche) und waren oder sind sie wirksam? |
Bewertung |
Wurden oder werden Maßnahmenkataloge als Reaktionen auf die Missbrauchsthematik in ihrer Wirkung überprüft, evtl. nachgebessert? Wenn ja, wie lief so ein Prozess ab und wie wird die Wirkung eingeschätzt? Dabei sind u. a. Kommunikations-, Beteiligungs-, Administrations- und Regierungsformen relevant. |